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Nachdem ich die Artikel „Ein aus der Zeit gefallener Hobbydenker“ und „Untypisch zum Quadrat“ über den schwierigen Weg bis zur Diagnose las, überlegte ich, ob ich auch darüber schreiben sollte. Ob das etwas bringt? Ich weiß es nicht. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber wenn nur ein Mensch dadurch erkennt, dass er/sie nicht allein mit seinen/ihren Problemen ist, ist das schon ausreichend, um diesen Text zu veröffentlichen.

Zunächst betrachtete ich mich als völlig normales Kind, aber ich denke, das tut jedes kleine Kind. Ein Kind existiert einfach, es ist, wie es ist und hinterfragt nicht viel. Mein großes Glück war, dass mein Bruder ebenfalls im Spektrum ist, sodass wir gemeinsam einfach zwei normale Kinder waren, aus meiner Sicht zumindest. Die erste, die etwas bemerkte, war unsere Großmutter, die meinen Bruder als „das kleine Genie“ bezeichnete. Damals dachte ich, sie sagt das einfach, weil sie unsere Großmutter ist. Heute frage ich mich, ob sie damals schon bemerkte, dass wir anders als andere Kinder waren.     

Über die Autorin

Evamaria ist Doktor der Rechtswissenschaft, erfolgreiche Juristin, in der Freizeit Künstlerin, Autorin und Sportlerin, – und Autistin. „Ich bin nicht trotz Autismus‘ erfolgreich sondern wegen meines Autismus‘. Richtig eingesetzt ist Autismus eine besondere Fähigkeit, die mir ermöglicht, außergewöhnliche Leistungen zu erbringen“

In den Kindergarten zu gehen, war ein fürchterlicher Schock. Es war schrecklich. Es war alles laut und bunt und überall bewegten sich Kinder. Ich konnte auch den Kindergarten nicht betreten, denn da war ja überall schon jemand. Bis heute empfinde ich es als äußerst unangenehm, einen Raum zu betreten, in dem sich schon jemand befindet. Der Raum ist besetzt, also möchte ich mir einen freien Raum suchen, den ich dann für mich besetzen kann. Das war im Kindergarten nicht möglich. Ich wurde in eine Gruppe fremder Kinder gesteckt, die sich fürchterlich benahmen. Ein normales Kind war meiner Ansicht nach mein Bruder, der still war, mit dem ich ähnliche Interessen teilte.

Die Kinder dort waren extrem laut. Dazu muss ich sagen, dass ich Geräusche körperlich wahrnehme. Je nach Frequenz empfinde ich die Geräusche irgendwo zwischen Unterbauch und Kopf, je höher die Frequenz, desto weiter oben. Kinder haben die Angewohnheit, in einer extremen Frequenz zu quietschen und zu schreien, die bei mir gleichzeitig Kopfschmerzen und Übelkeit auslöst.  Als ob das nicht schlimm genug wäre, bewegten sich die Kinder auch noch ständig schnell, unangekündigt, chaotisch und ruckhaft.

In meinem Gehirn müssen die Spiegelneuronen recht gut ausgeprägt sein, denn ich empfinde Bewegungen anderer Menschen, als ob jemand an den entsprechenden Körperteilen ziehen würde, damit ich die Bewegung mitmache. Wenn jemand den Arm hebt, empfinde ich das, als würde mich jemand am Ärmel ziehen, damit ich auch den Arm hebe. In einer Gruppe von wild durcheinander hüpfenden und kreischenden Kindern fühlt sich das an, als würden alle gleichzeitig an mir herumzerren. Ich war, gelinde gesagt, schockstarr. Ich wusste nicht, wie ich mich dagegen wehren könnte, gegen diese ständig auf mich einprasselnden schmerzhaften Angriffe. Sie ließen mich nicht in Ruhe Bücher ansehen oder zeichnen. Selbst wenn ich mich aus Verzweiflung am WC einsperrte, kamen die Pädagoginnen mir nach und holten mich zurück in die Gruppe. Ich war sehr erleichtert, als meine Eltern mich wieder vom Kindergarten abmeldeten. In meiner Erinnerung war der Kindergarten eine lange Qual, meine Eltern meinen, ich war nur sehr kurz dort. 

Die Schule war noch viel schlimmer. Wir waren übersiedelt und zunächst hoffte ich, dass ich vielleicht in einer Schule auf Kinder treffen würde, die „richtige Kinder“ wären – also so wie mein Bruder und ich. Die Hoffnung wurde leider völlig enttäuscht, schlimmer noch, die Kinder in der Schule und auch die Lehrerinnen sprachen Dialekt – eine Fremdsprache für mich. Ich verstand nicht, was sie sagten und sie waren offensichtlich nicht in der Lage oder Willens, korrektes Deutsch zu sprechen.  Kinder sind kleine Sadisten und Schulen eine Brutstätte für Amokläufer. So empfand ich es damals. Ich war die kleinste und die bzw. eine der Klassenbesten. Keine gute Kombination, ich war rasch Mobbingopfer Nr. 1. Auch wenn manche sagen, die anderen haben es ja nicht absichtlich gemacht, das war kein Mobbing, das waren Kontaktaufnahmeversuche: Teilweise ja, teilweise nein.

Manche Kinder waren wohl wirklich bloß völlig ungeschickt und wussten nichts mit mir anzufangen. Warum sie mich dann nicht einfach in Ruhe lassen konnten, ist mir ein Rätsel. Andere Kinder waren absichtlich grob, gemein, böswillig. Ich wurde geschlagen, niedergestoßen, getreten, meine Sachen wurden gestohlen oder beschädigt. Das sind Straftaten, das ist kein „Missverständnis“ mehr. Ich war in der Volksschule, als andere Kinder mich in den glühenden Draht des Styroporschneiders stießen. Die Narbe ist verblasst, aber immer noch sichtbar und es ist nicht die einzige. 

Warum in den ganzen 12 Jahren Schulzeit die Lehrer nicht einmal wirksam eingegriffen haben? Ich weiß es nicht. Anfangs habe ich um Hilfe gebeten, aber ich lernte rasch, dass die Lehrer nicht halfen. Sie machten alles nur noch schlimmer, denn sie sprachen die Täter einfach nur darauf an, die daraufhin alles abstritten und dann – wenn kein Lehrer da war – war alles noch schlimmer als zuvor. So lernte ich, dass es keine Hilfe gibt. Ob ich den Lehrern Vorwürfe machen soll? Eigentlich nicht, denn Lehrern fehlt die notwendige Ausbildung und die konkrete Möglichkeit, um Mobbingopfer wirksam schützen zu können. Dazu müssten die Lehrer die Möglichkeit haben, erst einmal Täter und Opfer wirksam zu trennen und dann die Situation in Ruhe forensisch aufzuarbeiten. Das können und dürfen die Lehrer nicht, sogenanntes Systemversagen auf allen Linien. Ich kann gut verstehen, warum es zu Selbstmorden und Schulamokläufen kommt, denn die Situation ist unerträglich. 

Gegen Ende der Schulzeit wurde es besser, denn die schlimmsten Täter schieden aus der Schule aus und blieben gar nicht bis zur Matura, außerdem kamen die anderen nun darauf, dass ich meine Mitschriften alle gesammelt hatte und wollten sie nun kopieren (sie hatten ihre Hefte natürlich stets in den Sommerferien entsorgt). Ich war durchaus hilfsbereit, besonders gern zu jenen, die mich bisher in Ruhe gelassen hatten oder hin und wieder sogar nett zu mir waren. Ja, es gab auch nette Kinder. Ich wusste zwar nichts mit ihnen anzufangen und sie nicht mit mir, aber das war nicht schlimm. 

Das Schönste an der Schulzeit war das Lernen. Ich erinnere mich jedoch, dass meine Eltern mir erzählten, dass ich ständig mit den Lehrern diskutierte, warum ich was lernen sollte. Daran erinnere ich mich nicht. Ich erinnere mich nur, dass ich immer alles hinterfragte, sowohl die Aussagen der Lehrer – insbesondere wenn ich in Büchern bereits etwas anderes gelesen hatte – als auch die Frage, warum ich was lernen sollte. Am liebsten waren mir die Lehrer, die es mir einfach erklären konnten.

Wozu ist Integralrechnen gut, wozu braucht man das? Nun, wenn du mal Ingenieur werden willst, musst du Volumen von Drehkörpern berechnen können. Ja, das ist logisch. Ich wusste zwar nicht, wer in der Klasse eventuell ein entsprechendes technisches Studium absolvieren würde, aber ich verstand, dass eine Schule, deren Abschluss zu allen Studienrichtungen berechtigt, den Stoff vermittelt. Tatsächlich mag ich sich um eine Achse drehende und schneidende Kurven, die Drehkörper bilden, auch wenn Trigonometrie mir sehr viel lieber war, denn in der Architektur war offensichtlich, wozu man diese Berechnungen braucht.  Macht es Sinn, Namen von Staaten und Hauptstädten auswendig zu lernen? Überhaupt nicht, denn Staatsgrenzen und Hauptstädte ändern sich ständig, es macht viel mehr Sinn zu lernen, wo man nachsehen kann, wenn man aktuell irgendwohin verreisen möchte. Macht es Sinn, Genetik und Vererbungslehre zu lernen? Ja, selbstverständlich! Jeder Mensch ist davon betroffen, jedes Tier, jede Pflanze. Natürlich sollte man sich da auskennen!

Engagierte Lehrer schätzte ich sehr und betrachtete sie sehr viel mehr als meine Freunde als Kinder es je sein konnten. Mit einigen meiner ehemaligen Lehrer bin ich heute noch gut befreundet. Es gab auch Lehrer, die ich nicht mochte, das waren jene Lehrer, die in keiner Weise erklären konnten, warum etwas wichtig war, sondern nur schlecht gelaunt den Stoff abarbeiteten. Lehrer mit Begeisterung und Leidenschaft für ihr Fach konnten mich auch begeistern. 

Nach der Matura wollte ich studieren. Ich hatte eigentlich eine künstlerische Ausbildung geplant, jedoch bei der Aufnahmeprüfung ging es alles andere als fair zu, denn obwohl alle meine ungewöhnlichen Ansätze lobten und meinten, 99% aller Menschen hätten die Fragestellungen ganz anders gelöst, meinten sie, dass ich keine Chance hätte, weil ich kein entsprechendes Netzwerk hatte. Nicht für das Studium, das würde ich wohl schaffen, aber danach. Also wurde ich nicht genommen. Netzwerk? Abgesehen davon, dass ich nicht gut im Networking bin, war ich der Ansicht, dass jedes Protektions-Netzwerk eigentlich verboten sein muss, da es immer unfair ist und nicht auf die konkreten Fähigkeiten und Talente einer Person abstellt, sondern auf die Fähigkeit, mächtigen Männern (es sind meist Männer) in den A*** zu kriechen (bitte um Entschuldigung für die flapsige Ausdrucksweise). Meine Vorstellung von einem Künstler war ganz anders: Ein Künstler ist jemand, der für sich allein in seinem Atelier ist, abgeschirmt von allen störenden Einflüssen der Außenwelt, sodass er sich ganz auf seine Kunst konzentrieren kann. Leider sieht die Praxis vollkommen anders aus.

Da ich die Angewohnheit habe, mich auf zukünftige Situationen genau vorzubereiten, habe ich gedanklich Jahrelang Alternativszenarien durchgespielt, genau genommen bereits ab der 5. Klasse Gymnasium. Ich brauche im Kopf stets ein „Drehbuch“, das ich genau vorbereite, mit verschiedensten Alternativmöglichkeiten, um gut vorbereitet in eine Situation zu gehen. Konkret hatte ich eine ganze Liste von Alternativen, was ich tun könnte, wenn es nicht klappt, obwohl ich natürlich hoffte, dass Plan A klappen würde.  Plan A, Kunst, war mein Traum seit ich etwa drei oder vier Jahre alt war.  Plan A platze, bevor er überhaupt begonnen hatte und ich war am Boden zerstört. Allerdings hatte ich keine Zeit zu trauern oder mich zu psychisch wieder zu fangen. Ich schaltete automatisch um in „Überlebensmodus“.

Nachträglich muss ich sagen, das ist etwas, was ich in der Schule gelernt hatte: Ich kann meine Gefühle komplett „außen vor“ lassen und mich auf ein Ziel fokussieren. Ich kann in einer schrecklichen Panikattacke vollkommen ruhig und rational wirken und agieren, als ob alles ganz einfach und normal wäre, während ich im Kopf verschiedene Handlungsoptionen durchgehe und die Erfolgswahrscheinlichkeit der unterschiedlichen Optionen bewerte. Ich kann trotz extremer körperlicher Schmerzen mit einem freundlichen Lächeln versichern, dass es mir gut gehen würde. 

Plan B war, dass ich Rechtswissenschaften studieren wollte. Das Recht ist etwas, das das Zusammenleben und Zusammenwirken zwischen Menschen in ein System, in ein Regelwerk einfügt und das Beste daran ist, dass dieses Regelwerk in Gesetzen, Urteilen, Lehrbüchern, Literatur niedergeschrieben und rational-logisch erlernbar ist. Endlich etwas, womit ich etwas anfangen konnte. Und mich interessierte besonders, wie ich diese Spielregeln benutzen konnte, um das zu erreichen was ich wollte. Wie lautet der schöne Spruch? Dumme Kriminelle werden Verbrecher, intelligente werden Anwälte… 

Das Studium selbst war nicht problematisch, ich war in manchen Fächern besser, in manchen schlechter, was teilweise auch an der Persönlichkeit der Professoren lag. Ich nahm das einfach so hin. Interessanterweise brauchte ich keinen „Paukerkurs“ und bestand alle Prüfungen beim allerersten Versuch, das liegt vielleicht auch an meiner Fähigkeit, etwas, das ich lese, mir sehr gut zu merken. Ich bin ein optisch veranlagter Lerntyp, wenn ich etwas lese, merke ich es mir lang, wenn ich etwas nur höre, vergesse ich es rasch wieder. 

Die Stadt ist jedoch kein Platz zum Leben. Es ist immer viel zu hell, tags und nachts, es sind ständig überall Menschen und es ist immer Lärm. Das machte mich – im wahrsten Sinne des Wortes – fertig, es ging so weit, dass ich aufgrund von massiver Überladung von außen in einen extremen Überlebensmodus umschaltete, der mit „Black-Outs“ verbunden war, also mit Situationen, dass ich mich plötzlich irgendwo wiederfand und mich nicht erinnern konnte, wie ich dort hingekommen war oder was ich gerade getan oder gesagt hatte. Aus Gesprächen mit Bekannten weiß ich jedoch, dass keiner von ihnen je etwas merkte, da ich selbst im „Black-Out“ normal weiterfunktioniere. Damals machte es mir Angst, ich wollte ja keinesfalls „verrückt“ werden. Inzwischen weiß ich, dass es einfach ein „Over-Load“ war, aber damals, ohne Diagnose, war mir nicht klar, was das sein könnte. Das Benutzen öffentlicher Verkehrsmittel ist ein Gräuel, denn öffentliche Verkehrsmittel sind vor allem eines: unberechenbar, chaotisch und ein gigantischer Stressfaktor. Es fängt schon damit an, dass Fahrpläne nie eingehalten werden. Entweder kommt das Fahrzeug zu früh oder zu spät und viel zu oft kommt es gar nicht. An der Haltestelle warten meist noch andere Personen und alle drängen dorthin, wo (hoffentlich) der Einstieg zum Fahrzeug ankommen wird. Und wenn das Fahrzeug doch kommt, ist nicht vorhersehbar, wie viele Personen sich darin befinden, ob und wo ein Platz frei ist. Ist man einmal drinnen, wird man zwischen anderen Personen herumgeschubst, ständig berührt einen jemand, ständig ist es laut und die Gerüche verursachen Brechreiz. Wenn ich öffentliche Verkehrsmittel vermeiden kann, tue ich das und nutze das eigene Auto oder Motorrad, denn da bin ich wenigstens nicht ununterbrochen anderen Menschen ausgesetzt, die sich invasiv verhalten (sie können nichts dafür, aber es ist trotzdem nur schwer zu ertragen). 

Hinzu kam das Problem, dass ich enorm empfindlich gegen Sonnenlicht bin. Ich lief von Arzt zu Arzt, wurde hin- und hergeschickt, bekam Informationen zwischen „da muss ein Fachmann ran“ und „das gibt es nicht, auf Sonnenlicht kann man nicht allergisch sein, gehen Sie zum Psychiater, das ist psychosomatisch bedingt“. Bis ich an der Universitätsklinik (endlich) bei einem Facharzt landete, der mir mitteilte, dass ich „Polymorphe Lichtdermatose“ hätte, das sei behandelbar, ich müsse nur bestimmte Desensibilisierungsbestrahlungen machen, um das besser in den Griff zu bekommen.  Ich bin dem Arzt sehr dankbar, denn meine Hautprobleme habe ich dadurch in den Griff bekommen. Daher nehme ich weder ihm noch dem Krankenhaus eine bestimmte Situation übel. Ich kam gerade aus der Bestrahlung, war also nur mit Unterwäsche bekleidet, um so viel Haut wie möglich bestrahlt zu bekommen, als nicht nur der Arzt, sondern auch eine ganze Gruppe junger angehender Mediziner wartete. Der Arzt erklärte den angehenden Medizinern meine Krankheit und sprach über mich, als wäre ich ein Schaubild und würde nicht einmal verstehen, was er da sagte. Ich war zunächst wie gelähmt und wusste nicht, wie ich reagieren könnte oder sollte, denn ich war nicht darauf vorbereitet gewesen, als Ausstellungsobjekt herhalten zu müssen. Grundsätzlich befürwortete ich jedoch, dass mein Krankheitsbild den angehenden Medizinern gezeigt werden sollte, denn so könnte anderen Patienten jahrelange Fehldiagnose und damit verbundenes Leid erspart bleiben. Als der Arzt den angehenden Medizinern erklärte, dass die Bestrahlung bereits eine große Verbesserung meiner Lebensqualität gebracht hätte, aber ich wohl nie einen Job wie z.B. Bademeister ausüben könnte, sondern einen „Indoor-Job“ brauchen würde, sprach er mich das erste Mal in dieser Sitzung direkt an und fragte ganz nebenbei, was ich beruflich machen würde. Meine Antwort „Juristin“ brachte ihn auf eine für mich amüsante Weise aus dem Konzept.

Nach dem Studium absolvierte ich das „Gerichtspraktikum“ und trat in eine Anwaltskanzlei ein. Ich war sehr froh, in einer kleinen Kanzlei zu arbeiten, wo ich wirklich alles lernen konnte und alles machen musste. Was ich dort lernte, ist unschätzbar. „Spezialist für alles“ oder „geht nicht, gibt’s nicht“ oder „Unmögliches wird sofort erledigt, Wunder brauchen etwas länger“ waren ein paar der Sprüche, die ich öfter hörte. Und manchmal auch einfach: „Wir wollen nicht Recht haben, wir wollen die Sache erledigen!“ Ja, es kommt nicht darauf an, in einer bestimmten Angelegenheit seine Rechtsmeinung durchzusetzen, sondern ein bestimmtes Ziel auf die eine oder andere Art zu erreichen. 

Für die Vorbereitung zur Anwaltsprüfung bekam ich einen halben Tag frei, mein Arbeitgeber schickte mich nach Hause, weil ich zu nervös zum Arbeiten war. Ich bestand auch die Anwaltsprüfung beim ersten Antritt, allerdings fand ich die mündliche Prüfung unfair. Nachdem ich die schriftliche Prüfung mit drei Mal sehr gut bestanden hatte und auch mündlich sehr gut war, brachte der Strafrecht-Prüfer mich komplett durcheinander mit seinen Fragen. Eine Frage lautete: „Wo würden Sie die fortgesetzte Gewaltbeziehung suchen?“ Ich verstand die Frage so, dass er die systematische Einordnung in die Deliktsgruppen meinte und antwortete daher, dass es ein Gewaltdelikt, ein Delikt gegen Leib und Leben sei. Er meinte, meine Antwort wäre falsch, das wäre nämlich der §107b StGB. Ja, aber – das hatte er ja gar nicht gefragt. Warum konnte er nicht einfach fragen, welche Nummer der Paragraph hat? Wenn er meinte, dass dieses Delikt unter den sogenannten „Freiheitsdelikten“ im 3. Abschnitt des StGB steht, warum hat er nicht danach gefragt? Er hat gefragt, wo ich das einordnen würde und ich würde es unter den Delikten gegen Leib und Leben einordnen. Wenn man es genau nimmt, umfassen die Delikte gegen Leib und Leben ja den zweiten bis vierten Abschnitt des StGB, also §§ 75 bis 110. Ich wollte dann aber nicht diskutieren, als die Kommission mir mitteilte, dass ich bestanden hatte. Bestanden ist bestanden, damit war die Sache für mich erledigt. 

Ich war stets anders als andere und tat mir immer mit sozialen Situationen schwer, jedoch war ich eher der Ansicht, das wäre eine Nachwirkung der Schulzeit, vielleicht posttraumatische Störung oder etwas in der Art, allerdings bemerkte ich rasch auch die Vorteile, die ich hatte. Ich konnte mir sehr viel merken, lernte schnell und konnte daher teilweise auf Umwegen zu Zielen gelangen, die auf dem direkten Weg einfach nicht erreichbar waren. Durch meine Angewohnheit, verschiedene Szenarien im Kopf durchzuplanen – was ich ganz automatisch mache – war die Entwicklung verschiedener Strategien für mich einfach. Leider musste ich feststellen, dass mir andere Fähigkeiten fehlten. Ich brauche eine gewisse Sicherheit und Stabilität, um effizient arbeiten zu können. Wenn ich persönlich in einer unsicheren Situation bin, bin ich blockiert und kann nicht weiterarbeiten. Stabilität bedeutet für mich, ein regelmäßiges Einkommen und laufend mit Aufgaben versorgt zu werden, die ich dann abarbeiten kann. Ich bin nicht gut im Anwerben von Kunden und das Netzwerken ist für mich schrecklicher Stress. Ich brauchte oft Stunden, um mich mit dem Schreiben von Verträgen und Schriftsätzen von einer stressigen Aufgabe wie einer Kaffeepause mit Kunden oder anderen Anwälten erholen zu können. Zu diesem passenden Umfeld gehört auch, dass ich ein eigenes Büro nur für mich allein habe, in dem ich ungestört arbeiten kann. Ich brauche meinen Rückzugsort, meine „sichere Höhle“, in der ich mich wohlfühle und konzentriert arbeiten kann.

Mein Bruder – ja, über ihn muss ich jetzt einfach schreiben. Er möge es mir verzeihen. Mein Bruder, ein Stabilisator in meinem Leben. Er war seit seiner Geburt immer für mich da und ich kann mir nicht vorstellen, dass er nicht mehr da wäre. Es war nicht einfach zu akzeptieren, dass er der Klügere von uns beiden ist. Ich war immer stolz darauf, dass ich aufgrund meiner Intelligenz vielen anderen überlegen war, besonders den Kindern, die mich in der Schule quälten. Aber mein Bruder war und ist der Klügere von uns beiden, ich bin nur die mit der „größeren Klappe“. Ich bin die pragmatischere von uns, kann eher Kompromisse akzeptieren, wenn ich ein Ziel erreichen will, in manchen Dingen bin ich flexibler. Aber er war und ist der Klügere. Er kann wunderbar mit Tieren umgehen. Er kann panische Pferde binnen Sekunden beruhigen, allein durch seine Anwesenheit. Die Szene aus Jurassic Park (Originalfilm), in der der Tyrannosaurus Rex das erste Mal ausbricht – wenn mein Bruder anwesend wäre, würde sich der T-Rex wahrscheinlich (nachdem er die Ziege verspeist hat) auf den Rücken rollen und erst mal von ihm ausgiebig an Kinn kraulen lassen, um dann zufrieden einzuschlafen. (Ich neige, wie mein Bruder meint, zu Übertreibungen, aber das macht die Sache doch nur anschaulich.) 

Mein Bruder wurde diagnostiziert als Asperger-Autist. Das brachte mich erstmals dazu, mich mit der Diagnose zu beschäftigen und ein Buch darüber zu lesen. Und das brachte mich dazu, ebenfalls eine klinische Diagnose zu suchen, denn so vieles kam mir so bekannt vor. Bei so vielen Dingen, die ich über Asperger-Autismus las, konnte ich mich deutlich wiedererkennen, so vieles kannte ich aus eigener Erfahrung. Ich wollte Klarheit haben.

Zwei Masken

In den Sitzungen stellte sich rasch heraus, dass ich auf den ersten Blick „normal“ wirke, erst die späteren klinischen Tests ergaben, dass ich, genau wie mein Bruder, Asperger Autist bin. Ich bin nur eine sehr gute Schauspielerin, kann ich doch so überzeugend neurotypische Menschen darstellen, dass überhaupt niemand mitbekommt, dass ich das nur spiele, um Probleme zu vermeiden. Es ist, als würde ich eine Maske tragen, um mich vor der Welt zu schützen.

Vielleicht ist es Zeit, diese Maske hin und wieder abzulegen, um mich selbst freizulassen. Die Diagnose war eine enorme Erleichterung, denn nun verstand ich die Vorgänge sehr viel besser. Ich verstand, dass ich mit anderen Sensoren und anderer Software ausgestattet bin als neurotypische Menschen und daher gewisse Strategien brauchte, um besser mit ihnen auszukommen.

Mein Bruder und ich sind ein wenig wie Lt. Commander Data und Lt. Commander Worf auf dem Raumschiff Enterprise. Außenseiter, aber richtig eingesetzt an der richtigen Position sehr viel effizienter als „normale“ Menschen, eben weil sie andere Perspektiven einbringen, Dinge anders sehen, anders wahrnehmen und andere Lösungsansätze für Probleme verfolgen.

In meinem letzten Vorstellungsgespräch habe ich die Diagnose offen gelegt. Die Reaktion meiner jetzigen Vorgesetzten war sehr positiv, denn sie haben mir zugehört, als ich erklärte, was diese Diagnose bedeutet und sind auf mich und meine Bedürfnisse eingegangen, haben mir den Freiraum gegeben, den ich brauchte. Ich wurde genau so angenommen, wie ich bin, brauchte mich in keiner Weise verstellen und wurde dadurch in die Lage versetzt, meine Stärken effizient auszuleben. Auf diese Weise kann ich gute Arbeit leisten und meine Kollegen und mein Arbeitgeber sind sehr zufrieden mit mir – und ich mit meinem Arbeitsplatz. Manchmal passiert es mir, dass ich vor lauter Spaß an der Arbeit die Zeit übersehe und versehentlich mehr arbeite, als ich eigentlich sollte, aber das ist ja nicht anstrengend, die Arbeit ist einfach so spannend, da fällt es mir manchmal schwer, mich “loszureißen”. Aber das ist Stoff für einen anderen Artikel…

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