fbpx
l

Es gibt und gab schon seit längerer Zeit einiges an Erklärungen zum Thema Autismus; ich möchte dieser Liste hier noch ein paar Ideen hinzufügen. Immer wieder stoße ich nämlich auf Aspekte, die für mich nicht mit den bekannten Erklärungen zusammenpassen oder in diesen einfach fehlen.

Glasscheibe oder nicht Glasscheibe?

Häufig wird und wurde Autismus damit verglichen, man befinde sich hinter einer Glasscheibe, die den autistischen Menschen quasi von seinen Mitmenschen und der Welt trennt. In Bildern wird dies häufig mit einem Kind dargestellt, das verzweifelt von innen gegen diese Glasscheibe klopft und heraus möchte. Durch diese Bilder ist mir der Vergleich mit der Glasscheibe zutiefst verleidet worden, denn die Fehlvorstellung, es wäre gewissermaßen ein „gesunder, normaler“ Mensch im Autismus gefangen, der wie ein Glassturz den Menschen einsperre, hat für viel Leid und Unverständnis gesorgt. Und „Behandlungsmethoden“, die heute selbst nach dem Tierschutzgesetz verboten wären. (Für Menschen mit diesbezüglich guten Nerven kann ich Silbermans Buch „Geniale Störung“ empfehlen.)

Über den Autor

Johannes Klietmann ist Asperger-Autist, hat einen Doktortitel in Paläobiologie und hält Impulsvorträge und Workshops. In seinen Artikeln lädt er in seine Welt des Autismus ein. Wichtige Zutaten: Fakten, Humor und Tiefgang.

Kind hinter Glas

Daher habe ich mich immer gegen dieses Bild gewehrt, in letzter Zeit aber häufiger mitbekommen, dass es durchaus auch von autistischen Menschen verwendet wird, um das Gefühl der Fremdheit oder der Schwierigkeit, Kontakte zu knüpfen, darzustellen. Ich muss es daher wohl akzeptieren, aber ich möchte ganz klar etwas zum Ausdruck bringen: Es handelt sich eher um den Eindruck, dass eine Verbindung mit den Mitmenschen nicht einfach möglich ist, als um ein Gefängnis meines Ichs. Ich persönlich vergleiche das gerne mit Kopfhörern, die entweder eine oder zwei Klinken haben – und meine Mitmenschen scheinen über zwei Klinken Kontakt aufnehmen zu können, ich nur über eine.

Wahrnehmungs- und Intelligenz-Merkwürdigkeiten

Intelligenzgene für kognitive Einschränkungen?

Eine der merkwürdigeren Erkenntnisse ist, dass Gene, die mit Autismus korrelieren, auch mit Intelligenz korrelieren (siehe z. B. Gibbons 2018 oder in der Mitteilung der Universität Edinburgh 2015). Das heißt also, dass Autismus eigentlich besonders hohe Intelligenz bedeuten müsste, aber wir wissen, dass das falsch ist. Es gibt im Autismusspektrum auch das volle Intelligenzspektrum, von überragend intelligenten Menschen bis hin zu geistig schwer eingeschränkten. Wie lässt sich dieses Rätsel lösen?

Meiner Meinung nach dadurch, dass wir erst einmal verschiedene Konzepte differenzieren. „Intelligenz“ ist eine höhere kognitive Leistung, aber sie ist ein emergentes Phänomen. Emergenz bedeutet, dass das Ganze oft mehr ist als die Summe seiner Teile – ich als Holobiont (also als Summe aller meiner Körperbestandteile und Symbionten*) kann weit mehr, als sich aus der Funktion der einzelnen Zellen herauslesen ließe. Gewissermaßen ist also eher ein abstraktes Konzept als eine konkrete Funktionsbeschreibung.

*) Der menschliche Körper enthält etwa eintausend Mal so viele Bakterienzellen wie Körperzellen; sie machen etwa ein Zehntel unseres Gesamtgewichts aus. Hinzu kommen noch einzellige Hefen auf der Haut. Ohne sie könnten wir Zellulose nicht verdauen, verschiedene Vitamine nicht herstellen und uns nicht gegen schädliche Keime wehren. Ich mag meine Bewohner.

Gene codieren Genprodukte, das heißt, ein Gen sorgt beispielsweise für ein bestimmtes Protein. Da wird es schwierig, für höhere emergente Funktionen zu codieren; zwar gibt es viele Gene, die regeln, wie andere Gene verwendet werden sollen, aber insgesamt gibt es meiner Auffassung nach keine „Gene für Intelligenz“, sondern nur Gene, die Auswirkungen auf die Interaktion der Gehirnzellen haben. Für das Beispiel Autismus heißt das, dass die Gene die Art, wie sich Gehirnzellen vernetzen, beeinflussen. Wie ich es verstehe, geht es also nicht um Intelligenz, sondern um die Fähigkeit zu differenzieren, die ja bei autistischen Menschen sehr hoch ausgeprägt ist (z. B. Ashwin et al. 2009). 

Wie das mit Intelligenz zusammenhängt, möchte ich nun mit der Analogie des Lesens erläutern.

Wenn eine Person sehr schlecht differenzieren kann, nimmt sie einen hellen Gegenstand (das Blatt Papier) mit einer dunklen, unterbrochenen Linie darauf wahr (die Schrift). Sie kann jedoch Wörter und Zeichen nicht unterscheiden und daher auch nicht lesen. Sie ist in dieser Hinsicht nicht intelligent.

Kann eine Person besser differenzieren, so kann sie die einzelnen Buchstaben und Wörter erkennen und ihren Sinn erfassen. Sie ist in dieser Hinsicht intelligent.

Differenziert hingegen eine Person noch mehr, so erkennt sie zwar Unterschiede zwischen den einzelnen Buchstaben (bei einer Handschrift beispielsweise die verschiedenen Versionen des Buchstabens „r“), ist aber nicht mehr in der Lage, die gleichen Buchstaben als gleich zu erkennen (also ein „r“ als „r“) und kann somit auch nicht die Wörter lesen. Sie ist in dieser Hinsicht nicht intelligent.

Daher kann ein Übermaß an „Intelligenzgenen“ zu anscheinend verringerter Intelligenz führen. Das bedeutet aber andererseits, dass all diese Gene insgesamt für die Gesamtpopulation der Spezies Homo sapiens nützlich sind und daher niemals ausgerottet werden könnten. Somit wird es immer einzelne geben, die eine „Überdosis“ dieser Gene bekommen, was dann als Autismus bezeichnet wird. 

Verzerrte Wahrnehmung?

Bedeutet nun Autismus eine verzerrte Wahrnehmung? Ja, eindeutig. Und zwar, um das Phänomen nicht zu einfach zu machen, eine individuell verzerrte Wahrnehmung. Gewissermaßen fehlt die Default-Einstellung, somit wählt das Gehirn dann irgendwelche Eindrücke, um sie zu betonen oder zu assoziieren.

Was aber bedeutet nun die Default-Einstellung? Ein neurotypisches Baby konzentriert sich auf Gesichter, neurotypische Menschen nehmen soziale Bewegungen in einem eigens dafür spezialisierten Bereich des Großhirns wahr (genau gesagt, dem superioren temporalen Sulcus, siehe hier). Bedeutet das nicht auch, dass die Wahrnehmung verzerrt wird? Meiner Meinung nach ganz eindeutig: ja. Das muss ja auch sein, denn gewisse Reize sind wichtiger als andere (beispielsweise ist die Bewegung eines Blattes im Wind ebenso eine Bewegung wie der Sprung eines angreifenden Löwen, aber letztere hat ganz andere Auswirkungen). Daher macht es durchaus Sinn, dass das Gehirn im Zuge der Evolution darauf selektiert wurde, bestimmte Sinneswahrnehmungen zu bevorzugen. Neurotypisch zu sein bedeutet also nicht, eine unverzerrte Wahrnehmung zu haben, sondern lediglich eine auf die übliche Weise verzerrte Wahrnehmung. Die Übereinstimmung liegt darin, dass die Wahrnehmung ausreichend ähnlich verzerrt ist, nicht darin, dass sie nicht verzerrt wäre. Gewissermaßen ist bei Autist:innen die Wahrnehmung der Welt oft weniger oder eben sehr individuell verzerrt, was dann zu den Schwierigkeiten führt.

Warum Angst voreinander?

Im Managementbereich gibt es den (meiner Meinung nach sehr unschönen) „Mad Dog Approach“. Die Grundidee dahinter ist folgende: Wenn der Chef exakte Regeln vorgibt, werden alle testen, wie weit sie gehen können. Es kommt also zu einem ständigen latenten Gerangel um die konkrete Position dieser Grenzen. Verhält sich der Chef jedoch komplett unberechenbar, macht also einmal furchtbaren Ärger wegen einer Kleinigkeit, einmal nicht, und übersieht dann wieder großzügig eine ärgere Übertretung, dann gibt es keine Grenzen. Da immer die Möglichkeit einer Explosion besteht, meiden die Angestellten dann eher jedweden Versuch, die Grenzen auszutesten.

Eine der typischen Schwierigkeiten bei Autismus besteht darin, die emotionale Auswirkung vorherzusehen, die das eigene Verhalten auf andere Menschen haben wird. Das heißt, dass sich subjektiv so ziemlich alle Menschen um mich herum unberechenbar verhalten und gefühlt den Mad Dog Approach mir gegenüber anwenden. Ich weiß, dass das von ihnen aus nicht so ist, aber das hilft meinen Gefühlen wenig. Das ist meiner Meinung nach eine Erklärung dafür, dass für viele autistische Menschen Angst das eigentliche Kernproblem ihres Gefühlslebens ist (ich finde die Studie dazu leider nicht wieder). Dazu kommt natürlich, dass Wahrnehmungen (oder auch der Eindruck des Wahrgenommenwerdens) oder Emotionen so intensiv werden können, dass sie als überwältigend und damit angstauslösend erlebt werden (siehe Williams Buch „Exposure Anxiety“).

Natürlich funktioniert das auch umgekehrt – auch ich verhalte mich vermutlich oft unberechenbar. Manchmal sogar für mich selbst, denn ich bekomme manche Gefühlsregungen auch erst dann mit, wenn ich sie bereits in meinem Verhalten ausdrücke. Das ist ein Grund, warum ich diesbezüglich ziemlich gehemmt bin. 

Kurz zusammengefasst scheint es mir so zu sein, dass autistische und nicht-autistische Menschen die Wirkung aufeinander schlecht einschätzen können und einander dann leicht als bedrohlich oder fremdartig wahrnehmen, zumindest, bis sie einander kennen gelernt haben. Das mag länger dauern und schwieriger sein als üblich, aber es lohnt sich.

Specialisterne Logo

 

Bei Specialisterne widmen wir uns der hohen Arbeitslosigkeit von Personen im Spektrum. Wir beraten, vermitteln, und bieten Fortbildungen an.

WIR SIND SOCIAL: Facebook — Instagram