Ein TED-Vortrag von Dr. Jac den Houting*
Der auch auf Youtube zu findende TED – Vortrag „Why everything you know about Autism is wrong“ – zu Deutsch: „Warum Alles, was du über Autismus weißt, falsch ist“ von Dr. Jac den Houting an der Macquarie University ist für mich persönlich der wertvollste Vortrag über Autismus, den ich bisher gehört habe. Umso interessanter ist der Vortrag dadurch, dass Dr. Jac den Houting selbst einerseits autistisch ist und sich aktivistisch engagiert sowie Psychologie studiert hat und in der psychologischen Autismus-Forschung in Australien tätig ist. Da es derzeit noch kein deutsches Transkript des Vortrags gibt, möchte ich versuchen, die Inhalte zusammenzufassen und wiederzugeben.
Dr. Jac den Houting beginnt den Vortrag mit einer Metapher: Heutzutage wisse jeder, dass die Erde rund ist und alle möglichen Überlegungen über die Erde bauen auf der Grundannahme auf, dass die Erde rund ist. Weiters ist das vor einigen hundert Jahren nicht bekannt gewesen. Damals dachten die Leute, dass die Erde flach ist. Bei einer solch wichtigen Änderung einer grundlegenden wissenschaftlichen Annahme über die Welt handelt es sich um einen Paradigmenwechsel. Die grundlegende Annahme über die Erde – in diesem Fall, dass sie flach ist – änderte sich dadurch, dass Beobachtungen gemacht wurden, die nicht damit vereinbar waren, dass die Erde flach ist. Genauso wie über die Form der Erde gibt es über Autismus einige Grundannahmen. Autismus wird von den meisten Menschen als medizinisch verstanden, nur als eine Erkrankung/Beeinträchtigung, eine Störung. Die meisten Menschen gehen davon aus, dass es im Prinzip nur den einen neurologisch richtigen Weg gibt, wie sich das Gehirn gesund entwickeln soll und dass Autismus als eine fehlerhafte, weil neurologisch abweichende Entwicklung des Gehirns einzuordnen ist. Sie denken, dass es sich daher bei Autismus um etwas handelt, das behandelt werden muss und dem man entgegenwirken muss.
Über die Autorin
Davida Zoey ist Asperger-Autistin, queer, hat einen Magister in Psychologie und begeistert sich für Basketball. Ihre Artikel sind inspiriert von Neugier, Leidenschaft, Humor, und kritischer Reflexion.

*Dr. Jac den Houting
Jac steht offen und stolz dazu, neurodivergent und queer zu sein. Dr. den Houting verwendet (im Englischen) die geschlechtsneutralen Pronomen they/them (statt „sie“ oder „er“) für sich. Ich habe mich bei meinem Artikel über Dr. Jac den Houtings Vortrag dazu entschieden, unter den deutschen Versionen für genderneutrale Pronomen die Version „sie:er“ auszuwählen. Meine Wahl fiel aufgrund der angestrebten Lesbarkeit auf sie:er bzw. die dementsprechenden grammatikalischen Abwandlungen. Es geht bei dieser Bezeichnung darum, dass Dr. den Houting nicht mit dem männlichen oder weiblichen Pronomen bezeichnet werden möchte. Menschen, die das weibliche und männliche Pronomen für sich ablehnen, haben dafür unterschiedliche Gründe. Unter Anderem bezeichnen sich genderqueere Personen bevorzugt mit geschlechtsneutralen Pronomen.
Dr. den Houtings eigene Diagnose mit 25
Dr. Jac den Houting erzählt dann davon, wie es war, si:ere* eigene Diagnose „Autismusspektrum“ mit 25 Jahren zu erhalten. Es war für si:en das Beste, das Jac bisher erlebt hatte. Es brachte eine überwältigende Erleichterung mit sich, da endlich alles in si:erem Leben Sinn zu machen begann. Dadurch änderte sich Jacs Paradigma über sich selbst völlig. Jac war keine neurotypische Person, welche im Grunde „versagt“ hatte, sondern vielmehr eine autistische Person, welche völlig in Ordnung war.
Autismus und Google
Nach der Diagnose machte Jac etwas, das neu diagnostizierte Personen oft tun. Autismus googeln. Tut man das, dann wird man von Informationen bombardiert. Von Informationen über autistische Defizite. Das machte für Jac den Houting irgendwie keinerlei Sinn. Über die eigene Zugehörigkeit zum Spektrum herauszufinden, hatte Dr. den Houtings Leben radikal zum Besseren gewendet. Wie konnte etwas, das so positiv für si:en war, für die Gesellschaft so negativ sein? Daraufhin beginnt Jac den Houting, tiefer zu graben. Nochmal war Googeln Thema. Aber diesmal interessierten Jac die Aussagen von Personen, welche selbst autistisch waren. Dabei entdeckte si:er das Neurodiversitäts-Paradigma. Die Grundannahme dessen besagt, dass Autismus als ein Teil der natürlichen Variation der Neurologie der Menschen verstanden werden sollte. Dass es sich, simpel ausgedrückt, um eine andere Form des Denkens handelt. Dass, so wie Biodiversität hilft, eine gesunde und nachhaltige Umwelt (für Alle) zu kreieren, Neurodiversität dabei hilft, eine gesunde und nachhaltige kognitive Umwelt (für Alle) zu kreieren.
Behinderung – medizinisch versus sozial definiert
Weiters thematisiert Dr. Jac den Houting die unterschiedlichen Definitionen von Behinderung. So gibt es das medizinische versus das soziale Modell von Behinderung. Das medizinische Modell sieht die Behinderung rein als in der behinderten Person selbst angesiedelt – das soziale Modell von Behinderung betont, dass es auf die Passung von Person und Umwelt ankommt, wenn wir über eine Behinderung sprechen. Jac erwähnt dazu einen Vergleich – und zwar Einkaufszentren. Si:er fühlt sich in Einkaufszentren schnell unwohl. Alles ist hell, laut, unberechenbar und es sind sehr viele Menschen unterwegs. Dem medizinischen Modell von Behinderung zufolge handelt es sich dabei darum, dass Dr. Jac den Houtings Gehirn Informationen nicht „richtig“ verarbeitet, weil si:er autistisch ist. Aber es gibt auch eine andere Perspektive: Aus Sicht des sozialen Modells von Behinderung geht es darum, ob die Umgebung einer Person auf deren individuelle Charakteristika gut zugeschnitten ist oder eben nicht. Man könnte aus dieser Sicht somit dasselbe Problem so skizzieren: Wären Einkaufszentren leise, im Freien angesiedelt und wären wenige Menschen unterwegs, so würde Jac in Einkaufszentren kein Problem mehr haben, Einkaufszentren würden Jac nicht mehr behindern/einschränken. Fast alles, das wir über Autismus wissen, ist durch Forschung entstanden, welche auf dem medizinischen Modell fußt. Diese Forschung ist dominant und sie sieht Autismus als eine Störung. Das ist ihr Ausgangspunkt.
Die Schwerpunkte der Autismusforschung entsprechen nicht den Wünschen der autistischen Community
Forschungsgelder in Australien sind die letzten 10 Jahre einer aktuellen australischen Studie zufolge hauptsächlich darin investiert worden, Autismus zu verhindern, zu heilen, zu korrigieren, aber nicht, Autist:innen zu helfen, ein besseres Leben zu führen. (Nur 7% Anteil der Forschungsgelder für Letzteres). Warum ist das von Relevanz? Weil jeder 50. Mensch autistisch ist, „60% von uns arbeitslos oder nicht mit einem ausreichenden Stundenausmaß angestellt sind, 87% von uns unter mindestens einer psychischen Erkrankung leiden, die Selbstmordrate 9mal höher als in der Gesamtbevölkerung ist und die durchschnittliche Lebenserwartung bei 54 Jahren liegt. Wir verdienen was Besseres!”, schließt Jac den Houting die Ausführung dieser eindrücklichen Zahlen.
Die Theorie des Double Empathy Problems
2012 schlug ein autistischer Autismusforscher namens Dr. Damian Milton eine neue Theorie vor. Er nannte sie „Das Double Empathy Problem“. Die Theorie nimmt an, dass Autist:innen keine sozialen Defizite haben, sondern vielleicht einfach besser mit anderen Menschen auskommen, die wie sie selbst denken. Vielleicht sozialisieren Autist:innen besser mit anderen Autist:innen und Nicht-Autist:innen sozialisieren besser mit Nicht-Autist:innen. Vielleicht liegen die Schwierigkeiten, die sich in der Kommunikation zwischen Nicht-Autist:innen und Autist:innen ergeben, nicht an sozialen Defiziten der autistischen Person, sondern daran, dass beide Personengruppen jeweils Schwierigkeiten damit haben, mit der jeweils anderen Personengruppe in einer Art und Weise zu kommunizieren, die füreinander Sinn ergibt. Für viele Autist:innen ergab diese Theorie sofort Sinn. Aber viele Autismusforscher:innen waren nicht so begeistert von dieser Idee. Vielleicht mochten sie auch einfach die Idee nicht, dass die ganze Geschichte des Autismus auf falschen Annahmen beruhen könnte?
Eine wissenschaftliche Untersuchung des Double Empathy Problems vom Mai 2020
Glücklicherweise griffen in den letzten Jahren dann doch eine handvoll Forscher:innen die Theorie des Double Empathy Problems auf und untersuchten sie wissenschaftlich, so z.B. Dr. Catherine Crompton von der University of Edinburgh. Das Forschungsteam tat dies mithilfe einer Versuchsanordnung, die dem Spiel „Stille Post“ entspricht, bei welchem eine Person der nächsten etwas zuflüstert und diese wiederum der übernächsten Person und so weiter, wobei man versucht, die Information möglichst genau aufzunehmen und exakt an die nächste Person wiederzugeben. Wir alle kennen das Phänomen, dass dabei am Anfang z. B. ein völlig unschuldiger Satz wie „Heute muss ich noch meine Miete zahlen und neue Reifen kaufen gehen“ stehen kann und am Ende dann ein Satz wie „Donald Trump ist Präsident und die Welt versinkt im Chaos“ rauskommen kann. In Edinburgh wurde dieses Spiel mit 3 verschiedenen Gruppen von Teilnehmern unter wissenschaftlich durchdachten Bedingungen gespielt. Eine Gruppe bestand nur aus Autist:innen, eine nur aus Nicht-Autist:innen und die dritte Gruppe war gemischt. Die Forscher:innen fanden heraus, dass die autistische und die nicht-autistische Gruppe in dieser wissenschaftlichen Untersuchung ähnlich gute Ergebnisse erzielten, während die gemischte Gruppe deutlich ungenauer und unklarer kommunizierte. Die 2 unterschiedlichen Kommunikationsstile passen nicht optimal zueinander und das ist genau der Punkt, warum die Kommunikationsprobleme entstehen. Das entspricht dem, was die Theorie des Double Empathy Problems vorausgesagt hatte.
Wohin die Reise gehen sollte
Dr. Jac den Houting schließt si:ere Rede mit folgenden Feststellungen und Aufforderungen: Wie wir über Autismus denken, muss sich grundlegend ändern. Es ist einfach kein sinnvolles Ziel für Autist:innen, zu erlernen, sich „weniger seltsam zu verhalten“. Wir brauchen Services und Unterstützungsangebote, die uns Autist:innen helfen, ein langes, glückliches und erfülltes Leben zu führen. Services, die aber zugleich das Recht, authentisch autistisch zu leben, respektieren. Und wir brauchen mehr von der Arbeit, die Jac den Houting macht: Autismusforschung, die von autistischen Menschen geleitet wird und genau diejenigen Fragen beantwortet, auf welche autistische Menschen auch tatsächlich Antworten suchen. „Weil die Erde nicht flach ist und ich keine Tragödie bin“, beendet Dr. Jac den Houting si:eren Vortrag an der Macquarie University in Australien.
Abschließender Kommentar meinerseits
Meine Seele wurde weit, als ich Dr. Jac den Houtings Vortrag hörte – deshalb wollte ich diesen hier möglichst für sich selbst sprechen lassen und ich hoffe, dass sich durch meine Rezension so Mancher motiviert fühlt, sich das Original anzuhören. Den Großteil habe ich einfach übersetzt und konnte mich nur wenig dazu überwinden, Dinge auszulassen, um den Rahmen nicht zu sprengen.
Vielleicht hier noch kurz zu mir: Ich selbst bin 33, habe (auch) Psychologie fertig studiert und bin mit 32 durch intuitives Googeln und einen Zeitungsartikel draufgekommen, dass ich zum Autismusspektrum gehöre (worauf eine Diagnostik folgte, die es bestätigte). Auch ich kenne das befreiende Gefühl, das die Diagnose zuerst in einem auslösen kann. Und auch ich kenne das befremdliche Gefühl, beim Googeln von Autismus von negativen Informationen überschwemmt zu werden. Und dabei – wie ich hinzufügen möchte – aussagekräftige und stärkende Erkenntnisse und Beschreibungen – so wie ich sie mir eigentlich ersehnt hatte – schmerzlich zu vermissen.
Dr. Jac den Houting fordert zu einem Paradigmenwechsel bezüglich Autismus auf. Ich finde, dass der Vortrag die emotionale Grundlage dafür schafft, einem grundsätzlichen Problem im Umgang mit Minderheiten entgegenzuwirken: Wir sind vom Standpunkt der Mehrheit aus auf eine Art und Weise anders, die übliche Abläufe „unbequem durcheinanderbringt“. Ja, Verschiedenartigkeiten sind oft erstmal unbequem. Darin auch Vorteilhaftes zu sehen, bedarf eines bewussten Perspektivenwechsels. Am besten von beiden Seiten. Dann können dieselben Verschiedenartigkeiten, die zuerst mühsam waren, schließlich beide Seiten ungeahnt bereichern.
Uns Autist:innen wird oft eine Schwäche, Perspektivenwechsel zu vollziehen, attestiert. Dabei fühlen genau wir uns oft unser Leben lang missverstanden. Zum Beispiel wird Autismus kaum aus unserer Sicht thematisiert. Unsere Sicht scheint als irrelevant zu gelten. Uninteressant. Den notwendigen Perspektivenwechsel weg von der defizitorientierten Sicht hin zu einer differenzierteren Sichtweise über Autismus scheinen selbst Forscher:innen nur selten zu vollziehen. Selbst diese scheinen wenig zu bedenken, was sie für oder mehr „gegen“ uns bewirken, wenn sie unsere Andersartigkeiten global als Störung definieren. Doch „anders“ nur als Problem zu definieren, ist eigentlich eine Schande. Einige unserer Andersartigkeiten bringen auch große Vorteile mit sich.
Haben die Forscher:innen, wenn sie es zur Priorität der Autismusforschung machen, Autismus zu verhindern, auch an uns gedacht? Wir Autist:innen, die hier und jetzt leben und die sich, wie jeder, ein erfülltes und respektiertes Leben wünschen? Warum werden hauptsächlich Menschen, die selbst nicht betroffen sind, beachtet, wenn es um Erklärungen und Forschungen darüber, wie wir ticken, geht? Warum sagen uns meist nur Nicht- Autist:innen, wie wir denken würden und was für uns hilfreich wäre? Mit welchem Recht wird uns standardmäßig unsere Stimme und damit auch bis zu einem gewissen Grad unser Recht auf Selbstbestimmung genommen?
Wie Dr. den Houting sagt: Autist:innen sollten (mit-)bestimmen, worum es bei Autismusforschung gehen soll und welche Fragen dringend untersucht werden sollten. Sie sollten in der Autismusforschung zahlreich beheimatet sein. Ein Perspektivenwechsel ist nichts Einfaches. Doch wir Autist:innen sind ein Leben lang darauf angewiesen, möglichst gut neurotypische Perspektiven einnehmen zu können, um uns halbwegs reibungslos und funktional mit der überwiegend neurotypischen Mehrheit verständigen zu können. Wir wissen genau, dass das oft schwierig ist. Doch es kann keine Einbahnstraße sein, nur weil wir die Minderheit sind. Ich glaube nicht, dass die meisten nicht-autistischen Menschen wirklich negativ gegen uns eingestellt sind. Ich glaube nicht, dass die Schieflage in der Autismusforschung bewusst herbeigeführt wurde. Und ich denke, sie ist den meisten Autismusforscher:innen nach wie vor unbewusst.
Ich glaube vielmehr daran, dass die meisten nicht-autistischen Menschen fähig sind, uns besser zu verstehen, wenn wir alle es schaffen würden, mehr echte Dialoge miteinander zu führen. Bei denen beide Seiten Gutes voneinander annehmen und sich selbst zu reflektieren imstande sind. Doch gleichzeitig möchte ich an dieser Stelle sagen: Einen wichtigen Perspektivenwechsel würde ich mir von nicht-autistischen Menschen wünschen: Kann „anders“ nicht auch „positiv anders“ sein?

Bei Specialisterne widmen wir uns der hohen Arbeitslosigkeit von Personen im Spektrum. Wir beraten, vermitteln, und bieten Fortbildungen an.