Betrachtungen zu sozialen Normen
Ungewöhnlich leichtfüßig
Da ich dies schreibe, ist es wieder warm geworden. Das heißt, dass es durchaus passieren kann, dass ich auch auf der Straße barfuß gehe. Warum? Weil es angenehm ist – ich fühle den Untergrund, ich fühle nicht das Gewicht der Schuhe und mein Tastsinn liefert nicht ständig Fehlermeldungen, da er blockiert ist. Die Angewohnheit meines Gehirns, Beeinträchtigungen der Sinneswahrnehmung als Gefahr oder Störung zu empfinden, ist auch der Grund, warum ich Handschuhe vermeide und auf lauten Straßen nicht einfach Kopfhörer trage. Wenn ich durch die Musik Geräusche höre, irritiert mich das Gedämpfte dieser möglicherweise wichtigen Geräusche instinktiv weit mehr, als es die Geräusche selbst tun.
Über den Autor
Johannes Klietmann ist Asperger-Autist, hat einen Doktortitel in Paläobiologie und hält Impulsvorträge und Workshops. In seinen Artikeln lädt er Sie in seine Welt des Autismus ein. Wichtige Zutaten: Fakten, Humor und Tiefgang.
Die meiste Zeit meines Lebens habe ich mich nicht getraut, bewusst eine soziale Norm zu brechen, obwohl ich durchaus andere gesehen habe, die es sich getraut haben. Irgendwann wagte ich dann auch, draußen barfuß zu gehen – und siehe da, die unausgesprochenen Befürchtungen traten nicht ein. Nein, ich habe nicht befürchtet, dass ich mich verletzen könnte – solange ich auf den Boden schaue, sehe ich Gefahren ja. Abgesehen davon sind geringfügige Verletzungen ein akzeptabler Preis für eine angenehme Tätigkeit; wäre dem nicht so, würde niemand Sport betreiben. Nein, ich hatte Angst vor der Reaktion der Leute, wenn ich aus der Norm falle. Immerhin habe ich die meiste Zeit meines Lebens gelernt, dass ich leicht daneben greife und gar nicht verstehe, was eigentlich mein Fehler war oder wieso das jetzt so schwerwiegend aufgenommen wurde.
Die Reaktionen sind aber durchwegs harmlos; manche grinsen blöd, manche sehen mich irritiert an, selten gibt es auch positive Kommentare, aber die meisten ignorieren mich oder schauen krampfhaft weg, offenbar um mit dem Wahnsinnigen bloß keinen Augenkontakt aufzunehmen. Das ist schon in Ordnung, ich will ja auch nicht Kontakt mit irgendwelchen Leuten aufnehmen.
Aye, Captain!
Woher aber meine Angst? Nun, Menschen sind soziale Wesen, das heißt, sozialer Stress ist für uns schädlich. Wir sind Gruppenlebewesen und wissen instinktiv, dass wir die Gruppe zum Überleben brauchen; aus der Gruppe verstoßen zu werden, ist somit eine lebensbedrohliche Situation. Oder war es, zu der Zeit, als sich unser Gehirn dementsprechend entwickelt hat. (Nicht umsonst war Verbannung lange Zeit eine schwere Strafe.) Natürlich wollen Menschen also sozialen Stress vermeiden. Das geht so weit, dass Menschen zur Vermeidung sozialen Stresses gestorben sind; Robert Cialdini hat dieses Phänomen „Captainitis“ genannt: Bevor sich Rangniedere gegen den Captain eines Flugzeuges auflehnten, waren sie bereit, dessen Fehler in Kauf zu nehmen, woraufhin das Flugzeug abstürzte. Da war die Angst vor dem sozialen Stress, vor dem Ausgestoßensein, größer als die Angst vor dem Absturz, selbst dann, wenn die Crew den Fehler durchaus bemerkt hatte. Da ich mir schwerer tue, vorher abzuschätzen, wann wie starker sozialer Stress gegen mich eingesetzt wird und auch in für Neurotypische harmlosen Situationen unter Stress gerate, bin ich eher zu vorsichtig. Einerseits, weil ich mit meinem Stress natürlich nicht andere belästigen will, andererseits, weil ich nicht Stress in anderen Menschen auslösen möchte. Das hier erwähnte Beispiel zeigt aber auch, wie wichtig gerade für Kapitäne und sonstige Führungspersonen ist, wenn sich die Crew sehr wohl traut, sie auf Fehler aufmerksam zu machen und sie das nicht als Herausforderung, sondern Anregung nehmen können. Immerhin wollen die meisten Flugkapitäne auch nicht abstürzen…
Die Tabu-Banane
Noch ein Experiment ist hochinteressant, wenn es um soziale Normen geht. Es wird sogar noch interessanter dadurch, dass es überhaupt nie stattgefunden hat, sondern lediglich in Ratgeber-Vorträgen oder -Literatur weitererzählt wird. Warum dem so ist, erkläre ich ein wenig später.
Es ist also ein Märchen, im Grunde genommen, aber ich möchte die Geschichte hier trotzdem erzählen. Abgesehen davon wäre es den Versuch wert; vermutlich würde es sich tatsächlich so oder ähnlich abspielen.
Da es ein Märchen ist, beginne ich standesgemäß: Es war einmal eine Gruppe Schimpansen im Zoo. Ihr wurde eine Banane ins Gehege gehängt. Schimpansen mögen Bananen, also wollten sie sich diese nehmen. Daraufhin wurde die ganze Gruppe mit kaltem Wasser besprüht, was Affen gar nicht mögen. (Wir ja auch nicht.) So lernten sie sehr rasch, diese Banane besser in Ruhe zu lassen.
Nun wurde ein neuer Schimpanse in die Gruppe eingeführt und ein Gruppenmitglied woanders hingebracht. Da der Neue nicht wusste, was es mit der Banane auf sich hatte, wollte er sie nehmen und wurde von der ganzen Gruppe, die nicht mit kaltem Wasser besprüht werden wollte, energisch davon abgehalten. Beim nächsten neuen Gruppenmitglied tat er selbst dann auch schon mit, wenn es darum ging, dass auch dieses die Banane nicht anfassen durfte. Er war sogar sehr engagiert dabei. Und so ging das Spiel weiter, bis irgendwann alle Gruppenmitglieder ausgetauscht worden waren. Kein einziger der noch anwesenden Affen war also mit Wasser besprüht worden. Aber da sie alle zurechtgewiesen worden waren, sobald sie nach der Banane gegriffen hatten, hatten sie gelernt, dass diese Banane tabu sei. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann greifen sie jeden neuen Schimpansen energisch an, der die Banane nehmen will, einfach nur deshalb, weil es ihnen genauso ergangen war.
Tatsächlich bekannt ist (Stephenson 1966), dass (zumindest männliche) Rhesusaffen aktiv einen anderen davon abhielten, mit einem Objekt zu interagieren, wenn sie selbst einen starken Luftstoß abbekommen hatten, sobald sie es selbst versuchten. Der andere Affe interagierte daraufhin weniger mit dem Objekt, obwohl er selbst nie einen Luftstoß abbekommen hatte. Wie üblich ist die Wirklichkeit weder so spektakulär noch so eindeutig wie menschliche Geschichten darüber.
Was erzählt uns das nun über uns selbst? Wir haben alle als Gesellschaft klare, aber meist unausgesprochene und eher unbewusst-emotionale als bewusste Vorstellungen davon, was man eben tut und was nicht. Die Weitergabe dieser Vorstellungen nennen wir „Erziehung“.
Wir bauen einen Menschen
Die Autoren Ian Stewart und Jack Cohen haben in dem mit Terry Pratchett verfassten Buch „Die Gelehrten der Scheibenwelt“ Erziehung als „Wir-bauen-einen-Menschen-Baukasten“ bezeichnet: Die Information, wie ein „richtiger“ Mensch zu sein hat, wird weitergegeben, durchgesetzt und eingeübt. Dazu gehört auch, was sie “Lügen für Kinder” nennen – also falsche Erklärungen, von denen wir wissen, dass sie falsch sind, die jedoch für Kinder im Moment wichtig sind. Beispielsweise wenn diese die komplette Information noch gar nicht begreifen könnten – wir können ja schlecht Dreijährigen die quanten- oder atomphysikalischen Grundlagen erklären, wenn sie fragen, warum Holz auf Wasser schwimmt. Manchmal erzählen wir einander auch noch Lügen für Erwachsene, mit dem Anspruch, besonders wahre Wahrheiten damit zu transportieren – die obige Bananengeschichte ist das perfekte Beispiel dafür.
Immerhin gelingt es Menschen nicht, zu „richtigen“ Menschen zu werden, ohne dies von anderen Menschen zu lernen. Sehr eindrückliche, wenn auch tragische, Beispiele dafür sind Kinder, die isoliert oder (was nur extrem selten vorkommt) unter Tieren aufgewachsen sind: Sie benehmen sich nicht wie Menschen, egal welcher menschlichen Gesellschaft, und sind auch geistig nicht auf der üblichen Leistungsfähigkeit, ohne dass dies auf andere Ursachen als eben ihr Umfeld zurückgeführt werden könnte. Als Wesen, die mit einem unfertigen (und daher besonders plastischen und lernfähigen) Gehirn geboren werden, brauchen wir sehr viel Information von außen, um uns zu entwickeln. Hinzu kommt, dass wir nicht allzu große soziale Gruppen bilden können, die auch tatsächlich funktionieren (siehe z. B. Król et al. 2001). Sobald wir größere Gruppen bilden, benötigen wir eine Möglichkeit, uns anzugleichen. Dazu gibt es dann eben diesen „Baukasten“, der alle Menschen ausreichend gleich macht. Erkennbar sind viele seiner Bestandteile darin, dass sie sehr wichtig genommen werden und, genauer betrachtet, keinen Sinn machen – etwa bestimmte Kleidung zu tragen und zu bestimmter Musik an bestimmten Tagen bestimmte Wege zu gehen, oder dergleichen mehr. (Das führt sogar zu der in meinen Augen leicht absurden Situation, dass Menschen ihre Gruppenidentität aus einem „Wir sind diejenigen, die dies und das tun“ beziehen, obwohl sie genau diese Aktivitäten gar nicht selbst tun. Boshaft formuliert beruht Wir-Identität vor allem auf gemeinsam begangenen Blödheiten.)
Andererseits führt dieses System natürlich zu Schwierigkeiten, sobald Menschen mit unterschiedlichen Baukästen aneinandergeraten. Dann müssen sie sich entweder auf einen übergeordneten Bausatz einigen, der sagt, wie in so einem Fall miteinander umzugehen ist, oder lassen es auf eine (wie auch immer geartete) Auseinandersetzung ankommen.
Werden solche Baukästen überprüft? Ja, ununterbrochen und heutzutage sehr laut und heftig, vor allem dann, wenn es um die Baukästen anderer Leute geht. Den eigenen… nein, der ist ja „richtig“. Es ist natürlich außerordentlich schwer, den eigenen Baukasten zu prüfen, denn er dient ja als intuitives Prüfinstrument. Wenn meine Wasserwaage falsch gebaut ist, kann ich nicht feststellen, ob etwas schief ist. Schon gar nicht kann ich feststellen, dass meine Wasserwaage einen Fehler hat, wenn ich nur diese eine besitze. Das erfordert wirklich Mühe, vor allem, da diese Baukästen ja auf emotionaler Ebene sitzen, also dort, wo „Richtigkeit“ empfunden wird. Gewissermaßen geht alle Richtigkeit von dem Baukasten aus, zumindest wird es so erlebt. Nichtsdestoweniger sollten wir alle diese Überprüfung immer wieder vornehmen, um unseren eigenen Baukasten zu verbessern. Auch, wenn es manchmal weh tut.
Normen, Änderungen und Abweichungen
Wo kommen Normen also her? Nun, anscheinend von Verhaltensweisen, die sich als nützlich erwiesen haben, etwa, indem sie die Gemeinschaft gestärkt haben oder weil sie zur Vermeidung von Aktivitäten dienten, die sich als schädlich erwiesen haben. Oder natürlich als Verfeinerung instinktiver Verhaltensweisen, die uns als Affen (meist) angeboren sind. Über all das lässt sich, glücklicherweise, diskutieren, sodass wir durchaus in der Lage waren, zumindest manche Aspekte davon bewusst zu machen und gegebenenfalls zu verbessern. Beispielsweise halten wir es nicht mehr für richtig, bei Bedarf Leute im Moor zu opfern oder dem Familienvater das Recht zuzubilligen, die eigenen Familienmitglieder zum Tode zu verurteilen. Wir halten es nicht mehr für richtig, dass der Mann das alleinige Recht hat, den gemeinsamen Wohnsitz zu bestimmen oder seiner Frau verbieten kann, arbeiten zu gehen (diese beiden Änderungen haben meine Eltern übrigens noch miterlebt, das ist also noch gar nicht so lange her).
Vieles bleibt dabei natürlich unausgesprochen und damit „selbstverständlich“ im Sinne des „Das ist halt so“. Je unreflektierter wir etwas für richtig halten, für desto richtiger halten wir es, meiner Beobachtung nach. Auf der anderen Seite stehen wir als Gesellschaft immer mehr vor dem Problem, dass es immer weniger Konsens gibt und die einzelnen Gruppen immer engere Grenzen ziehen, was eigentlich noch akzeptables Verhalten ist – und was nicht.
Das ist nun der Punkt, wo ich auch bezüglich des Autismus‘ und der damit einhergehenden Verhaltensabweichungen ein paar Worte verlieren muss. Wir verhalten uns oft nicht so wie erwartet – manche vermeiden Augenkontakt, andere erklären genauer als notwendig, sagen zu wenig oder sprechen Gedanken aus, die vielleicht korrekt, aber sozial nicht angebracht waren. Manche vermeiden Situationen, die sie gefälligst genießen sollten (ich zum Beispiel habe schon immer große Partys oder laute Konzerte gemieden und werde das weiterhin tun). Je enger die Erwartungen werden, desto eher folgen Zurechtweisungen. Auch daher wird die Diagnose „Autismus“ häufiger verlangt als früher: Da eine „Entschuldigung“, eine Begründung für abweichendes Verhalten benötigt wird. Früher gab es das Klischeebild des „zerstreuten Professors“, und das war völlig in Ordnung; heute braucht er eine Diagnose, wenn er nicht ausgestoßen werden will. Warum? Manche von uns sind eigenartiger als andere, aber im Grunde genommen sollten wir doch in der Lage sein, Verständnis auch dann zu entwickeln, wenn es keine Diagnose für Abweichungen gibt.
Was heißt das: “normal”?
Dazu noch eine kleine, aber wichtige Differenzierung: „Normal“ ist ein Wort mit mehreren, leider vermischten Bedeutungen. Normal im Sinne der Häufigkeit heißt so viel wie häufig, üblich, mehrheitlich. Normal im Sinne der Funktion heißt ohne Fehlfunktion, wie erwartet. (Was zu der absurden Situation führt, dass es bezüglich Sehfähigkeit in unserer Gesellschaft normal ist, nicht normal zu sein, da viele Menschen Sehhilfen benötigen.) Und dann gibt es noch normal im Sinne von richtig, also einer vorgegebenen Norm entsprechend. Das Schlüsselwort hierbei ist „vorgegeben“, also vorher festgelegt. Hier gibt es natürlich sehr große Unterschiede – nehmen wir als Beispiel die unterschiedlichen Begrüßungsnormen in Europa oder Japan.
Wenn wir also von „nicht normal“ sprechen, vermischen sich leicht diese drei Konzepte – jemand, der unüblich ist, entspricht auch nicht den Vorgaben und das ist eine Fehlfunktion, so lautet der Fehlschluss. Wir sollten uns klar machen, dass „unüblich“ nicht „falsch“ bedeuten muss. Das gilt auch im Bereich der neurologischen Funktionen. Und ich gebe zu bedenken: Als zum allerersten Mal ein Mensch lernte, Feuer zu benutzen, war das auch unnormal. Außerdem bin ich lieber merkwürdig als zum Vergessen.
Und zum Abschluss ein Zitat, dass ich erst vor Kurzem gefunden habe und ab sofort als eines meiner Lieblingszitate betrachten werde:
„Die höchste Form des Glücks ist ein Leben mit einem gewissen Grad an Verrücktheit.“ (Erasmus von Rotterdam)

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